Eine nicht gestellte Frage
Ulrike, 52 Jahre, Trauerbegleiterin, Essen
Das Wichtigste für Frau T. waren ihre Kinder und ihr Mann. Dafür lohnte es sich zu kämpfen – für jede Stunde und jeden Tag, den sie mit den drei Kleinen und ihrem Mann noch würde verbringen können.
Ihre Familie kam jeden Tag zu ihr auf die Palliativstation, der Ehemann schlief oft auch nachts bei ihr im Zimmer. Die Kinder waren immer wieder bei ihrer Mutter im Zimmer und dann auch wieder mit einer Tante im Wohnzimmer der Station, wo die Spielsachen und das Klavier waren.
Irgendwann hatte jemand der Familie von der Hospizarbeit und dem Büro der Hospizkoordination auf der Station erzählt. Den Kindern hatte man berichtet, dass dort nette Menschen arbeiten, denen man alle Fragen stellen könne und die gerne zuhören und spielen.
Es klopft an der Bürotür, ich öffne und vor mir stehen wie die Orgelpfeifen die drei Kinder, die beiden Mädchen, 12 und acht Jahre alt, und der Junge, vier Jahre alt.
„Guten Tag“
, sagen sie artig und ein bisschen schüchtern. „Bist Du die, die mit uns gerne spielen möchte?“
„Ja“
, antworte ich. „Wenn ihr spielen möchtet, dann habe ich Zeit für euch. Was möchtet ihr denn spielen?“
„Also, es gibt da diese Sendung im Fernsehen, da müssen Leute schön tanzen und andere, eine Jury, bewertet das dann. Das möchten wir spielen.“
„Let’s dance“
, sagt die Große.
Ich willige ein, ohne genau zu wissen, was gleich auf mich zukommt und lasse die Kinder beschreiben und bestimmen, wie es jetzt weitergeht.
„Also, wir sind die Jury und du musst tanzen. Wir sagen dir wie und dann geben wir ein Urteil ab“
, erklärt die mittlere der drei Geschwister.
Gesagt, getan. Wir gehen ins Wohnzimmer der Station und auf Geheiß der Kinder nehmen wir die Tafel, die wir sonst in der Hospizarbeit bei Schulungen nutzen, und planen mit Faserstiften unsere Choreografie.
Die Kinder erwarten nun von mir, dass ich Gefühle im Tanz und in meiner Bewegung ausdrücke. Nacheinander nennen sie mir Begriffe, die ich darstellen soll.
Als erstes soll ich zeigen, wie es aussieht, wenn ich fröhlich bin. Ich mache Hampelmänner und wir lachen gemeinsam über meine Versuche, Fröhlichkeit auszudrücken. Ein bisschen lassen die drei mich zappeln und amüsieren sich köstlich dabei, als sie sehen, wie mir langsam die Puste ausgeht.
Dann kommt das erlösende Urteil: „Nun ist es perfekt, 10,0 Punkte für die Fröhlichkeit!“
ruft die Große, die sich inzwischen ans Klavier gesetzt hat und zur Fröhlichkeit passende Töne klimpert.
„Sei mal krank!“
verlangt der kleine Junge dann und lehnt sich dabei fast genüsslich und erwartungsvoll im Sofa zurück.
Also gut, ich versuche, durch Bewegung, Geräusche und so etwas wie Pantomime darzustellen, was ich mir unter „krank sein“ vorstelle. Wie beim ersten Mal probiere ich allerhand Gesten und Bewegungen aus, bis zur vollständigen Zufriedenheit und Vergabe der Bestnote durch die Jury. Dabei werde ich wieder am Klavier von der großen Schwester begleitet – nun jedoch mit anders klingenden Tönen.
„Jetzt zeig mal, wie es aussieht, wenn du traurig bist“
, lautet die nächste Anweisung der Jury und wieder verändert sich die Stimmung der musikalischen Begleitung am Klavier.
Mit der folgenden Aufforderung fühle ich mich zunächst überfordert, probiere aber auch diese Darstellung bis zur Zufriedenheit der Kinder aus.
„Und nun sei tot!“
heißt es dann plötzlich.
Ich lege mich auf den Boden, stelle mich schlafend und versuchte dabei friedlich und zufrieden auszusehen.
Der letzte Begriff, den ich tanzen solle, wird mir wieder von dem kleinen Jungen gegeben. Er fordert mich auf: „Und jetzt sei flüssig!“
Die Töne, die das große Mädchen auf dem Klavier spielte, waren bei der Darstellung des Begriffes „Tod“ sehr leise und ruhig gewesen, nun klimpert sie wieder schneller und auch etwas munterer, was mir die Darstellung von „flüssig“ erleichtert. Ich versuche es mit wellenartigen Bewegungen, zunächst auf dem Boden, dann im Stehen, bis auch hier wieder das Urteil der Jury lautet: 10,0. Bestnote.
Die Kinder verabschieden sich lachend und ausgelassen von mir und wollen nun wieder zu ihrer Mutter ins Zimmer gehen.
Ihre Mutter ist einige Tage später gestorben, die drei Geschwister haben nicht noch einmal an unserer Bürotür geklopft.
Ich denke, ihre Frage war beantwortet.